Unser Zusammenleben zeigt Bruchstellen: Mangel an Respekt, Gewaltbereitschaft, Missbrauch sozialer Medien, Verstöße gegen Infektionsschutz-Gebote. Der Konsens über ein friedliches, gerechtes Miteinander bröckelt. Und das nicht nur in Deutschland.
Rechtsstaat und Grundrechte
Eine sozial nachhaltige, zukunftsfähige Gesellschaft braucht einen funktionierenden Rechtsstaat – Polizei, Justiz, eine gesetzestreue, korruptionsfreie Verwaltung. Und die Menschen müssen ihm vertrauen, davon überzeugt sein.
Für das Demonstrationsrecht, die Meinungs- und Pressefreiheit, den Gleichheitssatz gilt Ähnliches: Ihre Wahrnehmung muss objektiv gesichert sein, und die Menschen müssen dem gleichen Grundrechtsschutz für alle trauen.
Beides ist in Gefahr. Woher kommt das? Was muss für eine zukunftsfähige, nachhaltigere Gesellschaft getan werden? Ich weiß es nicht, habe nur eine Meinung:
Unsicherheit und Ungleichheit
Digitalisierung, Globalisierung, Klimakrise und Pandemie verändern unsere Gesellschaft in einem Tempo, das Angst machen kann. Die Welt wird immer komplizierter, undurchschaubarer. Nichts ist mehr sicher: Arbeitsplatz, Rente, sozialer Status, Beziehungen, vertraute Umgebung. Nicht viel wert sind auch Ausbildung, Erfahrung, Wissen – lebenslanges Lernen ist angesagt. Dem Stolz, eine Aufgabe zu erfüllen, wichtig zu sein, kommt schnell die Basis abhanden. Und das gilt keineswegs nur für Braunkohle-Kumpel in der Lausitz.
In den Wirtschaftswunderjahren des letzten Jahrhunderts ging es grundsätzlich aufwärts. Fortschrittsglaube, Wachstum und Konsum einten die Gesellschaft. „Meine Kinder werden es einmal besser haben“. Das ist vorbei. Heute ist Krise, Unsicherheit, Unübersichtlichkeit – trotz höheren Wohlstands, im Durchschnitt.
Bei großer Ungleichheit. Diese mag marktkonform sein, erscheint aber ungerecht. Einkommen und Vermögen von DAX-Vorständen oder Sport- und Kulturgrößen sind für Durchschnittsverdiener nicht mehr nachvollziehbar. Und dass eine Krise Reiche reicher und Arme ärmer macht, ist für das Vertrauen in den Rechts- und Sozialstaat fatal. Ebenso wie die Abhängigkeit des Bildungs- und Berufserfolgs vom sozialen Status der Eltern. Selbst Ungleichheit aus klug genutzter Chancengleichheit muss „verhältnismäßig“ bleiben.
Angst oder Mut
Dies alles trifft bei den einzelnen Menschen auf eine unterschiedliche persönliche Innenausstattung — psychisch, emotional und geistig. Die einen fühlen sich positiv herausgefordert, motiviert, und die anderen überrumpelt und überfordert: Zuversicht oder Zukunftsangst. Das sucht sich niemand aus. Die Probleme sind da, Angst oder Mut auch.
Wen die Zukunft ängstigt und die Komplexität der Welt bedroht, der sucht vielleicht einfache Antworten, Glaubenssätze, eine Ideologie, die alles erklärt und sortiert. Die Ordnung gibt, Richtung, Sinn und Trost. Um Wahrheit und Fakten geht es dabei weniger, um Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit auch nicht. Das Ich, die eigene Identität fordert Rückenstärkung.
Verschwörungstheorien, Rassismus, Antisemitismus bieten einfache „Lösungen“ für komplexe Probleme. Noch nie war die Suche nach solchen Lösungen und nach Gleichgesinnten so einfach wie heute. Im Netz.
Ohnmacht und Wut
Verbinden sich solche Überzeugungen mit dem Gefühl der eigenen Ohnmacht und gesellschaftlicher Ausgrenzung, sind Wut und Hass nahe. Auf die, die das Vertraute, die Sicherheit, die Zukunft bedrohen. Auf die Bestimmer, die Angstmacher. Einfache Lösungen fordern Opfer, Schuldige, Sündenböcke: Politiker, Fremde, Andersgläubige. Noch nie war es so einfach, Wut und Hass auf sie anonym herauszuschreien — auf Demonstrationen, in den sozialen Medien, in Liedtexten.
Und noch nie schlug dies in so viel Drohung und Gewalt um, in so viel Verletzung und Menschenverachtung.
Wie soll es weiter gehen? Starker Rechtsstaat
Ich fange hinten an:
Vertrauen in den Rechtsstaat gibt es nur, wenn Gewalt in jeder Form verhindert bzw. konsequent geahndet wird. Das gilt für alle Täter (ganz überwiegend Männer) – für ideologische Extremisten und Testosteron-gesteuerte Schläger ebenso wie für Frauenfeinde mit religiösem oder kulturellem Motiv. Auch natürlich für Polizisten, die das staatliche Gewaltmonopol missbrauchen.
Verbale Ausdrücke von Wut und Hass, die beleidigen, nötigen, verleumden, sind ebenfalls Straftaten. Auch sie müssten für die Täter Folgen haben. Müssten. Aber der Rechtsstaat ist hier zahnlos: Die sozialen Medien sind kaum zu fassen, Eingriffe bedrohen schnell die Meinungsfreiheit und das Zensurverbot. Polizei und Justiz sind personell und technisch total überfordert. Das Vertrauen in den Grundrechtsschutz der Opfer leidet erheblich.
Gelegenheiten zum Austausch
Wir müssen früher ansetzen: Bereits radikalisierte Extremisten und Verschwörungstheoretiker sind schwer wieder zurückzuholen. „Früher“ heißt: vor der fatalen Suche nach einfachen Antworten, schon beim täglichen Zusammenleben, beim persönlichen Umgang.
Meine Meinung: In Großstädten wie Hamburg haben sich die sozialen Milieus und Kreise seit langem auseinandergelebt. Man braucht sich nicht mehr. Die Quartiere sind reich, bürgerlich oder arm, aber selten gemischt. Der wohlhabende Westen und Norden Hamburgs steht dem armen Osten und Süden gegenüber.
Die Versuche, Flüchtlingsunterkünfte und sozialen Wohnungsbau in reiche Viertel zu integrieren, sind zu selten und treffen auf Widerstand. Die Marktpreise für Miet- und Eigentumswohnungen lassen normale Mobilität in „bessere“ Stadtteile nicht mehr zu.
So fehlt die Gelegenheit des Kennenlernens, des Austauschs zwischen den sozialen Milieus. Früher bot dies einmal die allgemeine Wehrpflicht. Heute vielleicht noch der Fußball, eventuell ein Verein. Parteien, leider auch Nichtregierungsorganisationen bieten diese Gelegenheit in aller Regel nicht.
Die Blasen verlassen
Jede*r lebt in einer Blase. Bei den Jüngeren vermittelt durch Facebook, Instragram, Whatsapp und Co. Chatgroups und Foren Gleichgesinnter ersetzen oft die persönliche Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Zeitungen und Medien mit breitem Informationsangebot sind meist out bei den Jüngeren.
Bei den Älteren besteht die Blase aus dem „bewährten“ jahrzehntealten Bekanntenkreis – oft nicht weniger geschlossen und gleichgesinnt. Hinzu kommt die eine seit Jahrzehnten abonnierte Zeitung. Gilt auch für mich.
Die „besseren Kreise“ rümpfen die Nase über Pegida, AfD, online-Beleidigungen, Hass-Posts und Verschwörungstheoretiker. Ihr Überlegenheitsgefühl zeigt sich zuweilen auch in „ihrer“ Presse. Diese lügt nicht – in der Regel. Aber natürlich wählt sie zwangsläufig Informationen aus, macht auch Meinung damit. Aber „die anderen“ haben dort meist keine Stimme. Die haben inzwischen ihre eigenen Medien und Kulturen. Schon eine gespaltene Gesellschaft?
Die Bruchstellen unseres Zusammenlebens sollten zu „Aus- und Aufbruch-Stellen“ werden: Ausbruch aus Abschottung und Sprachlosigkeit; Aufbruch zu Zusammenhalt trotz Unsicherheit und Meinungsunterschieden.
(Anregungen auch aus: Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen. 2017)
Foto: Peter H auf Pixabay