Die Corona-Krise weicht ganz allmählich zurück und gibt wieder den Blick frei auf die globalen Nachhaltigkeitskrisen. Welche Pandemie-Erfahrungen können wir nutzen für die sozial-ökologische Transformation, für die 2015 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele der UNO-„Agenda 2030“? Oder können wir alle gar nicht schnell genug zurück in die alte Spur? Weiter so wie vorher, war doch super?
Sicher: Wer seine Existenzgrundlage verliert, muss erst einmal überleben, durch schnelle Zuschüsse, Kredite. Und wer im Gesundheits‑, Pflege- und Erziehungssektor an die Leistungs- und Gesundheitsgrenzen geriet, braucht erst einmal Entlastung.
Aber dann? Hat die Corona-Krise nicht etwas verschoben in der Abwägung von wichtig und nachrangig? Von möglich und unmöglich? Von „Systemrelevanz“?
Eine neue Erfahrung: Gesundheitsschutz vor Volkswirtschaft
Bei den Nachhaltigkeits-Kreisen Umwelt ‑Soziales — Wirtschaft dominierten vor Corona meist die ökonomischen / finanziellen Sachzwänge die sozialen und ökologischen Ansprüche. In der Corona-Krise dominieren die sozialen / gesundheitlichen Aspekte. In diesem Ausmaß ist das neu. Das Los der ganz „normalen“ Menschen, ihre Risiken, Belastungen, Ängste, trieben und treiben die Politik vor sich her – auch zulasten der Volkswirtschaft.
Und das ist erst einmal gut so: Stellt die Corona-Krise nicht gerade das kostengetriebene Globalisierungsmodell mit seinen unüberschaubaren Lieferketten in Frage? Und das „alternativlose“ Wachstumsmodell des Immermehr und Immerschneller mit seinen ökologischen und sozialen Kollateralschäden? Und war nicht gerade der grenzenlose ressourcenverschlingende Massentourismus ein Komplize der Pandemie?
Wie wäre es mit einer Besinnung vor dem Neustart? Besinnung auch auf eine für manche wohltuende Entschleunigung, auf den Rückgang der CO2-Emissionen, auf die Ruhe um Flughäfen und in den Straßen? Und auf das, was „nachhaltiges Wirtschaften“ ist: die Versorgung der Menschen mit wichtigen Gütern und auskömmlichen Arbeitseinkommen bei wirksamem Schutz der Lebensgrundlagen.
Zurück oder zukunftsorientiert?
Der Neustart mit einem milliardenschweren Erholungsprogramm muss in die Zukunft, auf Resilienz und Vorsorge, gerichtet sein. Nicht zurück auf die Fortsetzung schädlicher und riskanter Entwicklungen.
Konkret: Wenn der Bund die Lufthansa mit 10 Mrd. € Steuergeld rettet, ist es seine Pflicht, damit auch Nachhaltigkeits-Forderungen für das Gemeinwohl umzusetzen. Etwa durch eine Reduktion der Inlandsflüge, eine Politik der Mobilitäts-Versorgung statt des Wachstums, Investitionen in synthetische Kraftstoffe.
Eine zweite Abwrackprämie auch zum Neukauf fossil betankter Autos würde die Chancen des Neuanfangs verfehlen. Es wäre ein Weiter-so in die falsche Richtung.
Die Digital-Wirtschaft braucht keine Rettung. Die Krise machte sie zum Gewinner: Hard- und Software für home office, Videokonferenzen, home schooling. Skypen, Podcasts, Youtube und Streamingdienste verbinden, informieren und unterhalten die Nation. Nutzen wir ihre Vorteile für die Nachhaltigkeit auch in Zukunft — nicht immer, aber immer wieder: die Einsparung von Ressourcen und Emissionen, von Raum, Transportkapazitäten, fossilen Brennstoffen.
Allerdings: Die Digital-Wirtschaft muss sich noch einer harten Energie-Diät unterziehen, die mit Öko-Strom auskommt. Die Politik muss für gleiche digitale Chancen in der Gesellschaft sorgen. Warum die unverhofften Gewinner nicht auch finanziell daran beteiligen?
Die Alltagshelden bleiben es auch in Zukunft
Der zweite Nachhaltigkeits-Kreis: das Soziale. Die Pandemie zeigte es: Verkäuferinnen, Altenbetreuer, Busfahrerinnen sind ebenso systemrelevant wie Pflegerinnen, Paketfahrer und Erzieherinnen. Der Respekt und die Anerkennung für sie alle müssen anhalten. Sie sollten sich in Zukunft in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen mit verbesserten Arbeitsbedingungen und Löhnen niederschlagen. Bereitschaft dazu könnte zur Auflage bei staatlichen Hilfs- und Fördermaßnahmen an die Institutionen und Unternehmen werden.
Im Bildungsbereich verstärkte die Krise die Benachteiligung von Kindern aus armen und bildungsfernen Familien sowie von Alleinerziehenden. Die Schulen müssen auch ihnen die notwendigen technischen Lernmittel und bei Bedarf Förderungen anbieten. Der langsame Übergang von der Krise zur Normalität sollte gezielt Ungleichheiten abbauen.
Im Gesundheitsbereich offenbarte die Corona-Krise Strukturfehler. Wie es seit langem eine „strategische Ölreserve“ gibt, so müssten zur Epidemievorsorge medizinische FFP2-Masken für alle, bestimmte Medikamente, Tests und Impfdosen für den Notfall von Staats wegen eingelagert werden. Eine großzügige öffentliche Wiederanschub-Finanzierung privater Krankenhäuser sollte mit einer Verbesserung der Versorgungsstruktur und einer Überprüfung der Fallpauschalen verbunden werden.
Virus- und Umweltkrise: Kipp-Punkte und Vertrauen in die Wissenschaft
Der dritte Nachhaltigkeits-Kreis, die Umwelt und ihre Beschützer, halten sich bisher eher vornehm zurück. Aber warum eigentlich? Hat die Epidemie uns nicht ein neues Gefühl gegeben für kritische „Kipp-Punkte“, für gebotene Entscheidungen trotz unsicherer Datenlage, für staatliche Eingriffe, wo der Markt versagt?
Beim Klima‑, Ressourcen- und Artenschutz ist sich die Wissenschaft grundsätzlich einig, vielleicht einiger als bei der Corona-Pandemie. Auch im Klimaschutz drohen sich selbst verstärkende unbeherrschbare Zustände. Z.B. wenn die Erderwärmung den Permafrost Sibiriens oder den Eisschild Grönlands auftaut. Oder wenn die Zerstörung der Urwälder den regionalen Wasserkreislauf stoppt.
Die Politik muss die Umwelt- und Klimawissenschaft ebenso ernst nehmen wie gegenwärtig die Virologen und Epidemiologen. Und ebenso beherzt handeln:
Schneller Kohle-Ausstieg, drastischer Ausbau der erneuerbaren Energien, Umstellung auf rohstoffsparende und abfallarme Produkte. Daneben braucht es Speicher- und Wasserstoff-Technologien, auch zur Vorsorge. Dazu natürlich Klimaanpassungsmaßnahmen. Und nicht zuletzt fordern Biodiversität, Arten- und Tierschutz Naturschutzmaßnahmen und eine europäische Agrarwende.
Die Corona-Krise hat für die Menschen den Wert von Grünflächen, Parks und Spielplätzen drastisch erhöht. Er sollte nicht wieder vergessen, sondern gut gepflegt werden. Auch hier gibt es Ansatzpunkte für arbeitsbeschaffende Förderprogramme, für Biotop-Verbünde z.B.
Staatseingriffe, wo der Markt versagt
Auch wenn Unternehmensverbände einen größeren staatlichen Einfluss vehement ablehnen: Die Corona-Krise und ihre Folgen werden mit sehr viel Steuergeld bewältigt. In einem demokratischen Staat gibt das durchaus Gelegenheit, politische Ziele, die Markt und Wettbewerb nicht erreichen, auch über staatliche Förderungs‑, Investitions- bzw. Rückzahlungsbedingungen anzusteuern.
Die UN-Agenda 2030, die Klimabeschlüsse von Paris, der „Green Deal“ der EU und die deutsche Nachhaltigkeits- und Kohleausstiegs-Strategie werden die Corona-Krise überstehen. Sie bleiben die Leitplanken für den Wiederaufbau der Wirtschaft und den Übergang in eine neue, nachhaltigere Zeit.
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