Neulich saß ich in einer Podiumsdiskussion zum Klimawandel. Vier kompetente Frauen, alle engagiert, alle für Klimaschutz. Eine Psychologin von Psychologists for Future, eine Bürgermeisterin aus einer norddeutschen Energie-Pioniergemeinde, eine Aktivistin eines Widerstandskollektives, und die Moderatorin.
Auf den ersten Blick perfekte Voraussetzungen für einen konstruktiven Dialog. Alle standen auf derselben Seite. Und genau da begann das Problem.
Vier Menschen, vier Welten
Während der anderthalb Stunden wurde mir klar: Diese vier Menschen lebten in völlig verschiedenen emotionalen Realitäten — obwohl sie alle “für Klimaschutz” waren.
Die Aktivistin sprach mit spürbarer existenzieller Dringlichkeit: “Jetzt sind Kipppunkte erreicht, jetzt stehen wir am Beginn einer Klimakatastrophe.” Für sie ist der Meeresspiegel bereits unumkehrbar dabei, um mehrere Meter anzusteigen. Hamburg wird davon betroffen sein — aber die Politik plant immer noch neue Wohngebiete am Wasser, statt Evakuierungspläne zu entwickeln. In ihrer Welt stehen wir nur wenige Schritte entfernt von einem Kollaps unserer Zivilisation.
Die Bürgermeisterin hingegen strahlte Optimismus und lokalen Stolz aus: “Die Letzte Generation braucht bei uns im Ort nicht auftauchen. Da kommt niemand, weil wir ganz gute Politik machen.” In ihrer Welt funktioniert Klimaschutz hervorragend: Fernwärme für 7 Cent die Kilowattstunde, ökologische Baupläne, grüne Gespräche mit Kommunalpolitikern. Ihre Botschaft war klar: Bei uns läuft das schon mit dem Klimaschutz — mit Freude und auf einem sehr guten Weg. Klimaaktivisten? Bei uns nicht nötig.
Die Psychologin bewegte sich zwischen beiden Polen: Bewusst für die Dringlichkeit, aber in einer professionell-analytischen Distanz. Ihre Welt war geprägt von der Frage, wie verschiedene Menschen verschiedene Kommunikationsstile brauchen — “jeder soll das machen, was seinem Stil entspricht.”
Die Moderatorin schließlich war sichtbar darauf bedacht, alles harmonisch und freundlich zu halten. Als später kritische, hinterfragende Fragen aus dem Publikum kamen, empörte sie sich regelrecht über deren “Tribunalcharakter” — bloß keine echte Kontroverse entstehen lassen. Das geordnete Gespräch war ihr Ziel.
Das höfliche Aneinander-Vorbeireden
Anderthalb Stunden lang tauschten sie höflich ihre Weltanschauungen aus, nickten respektvoll, bezogen sich aber kaum auf die tiefliegenden Unterschiede der anderen. Die Aktivistin sprach von Klimakatastrophe und steigendem Meeresspiegel — die Bürgermeisterin von erfolgreichen Fernwärmeprojekten. Die Psychologin erklärte verschiedene “Kommunikationsstile” — die Moderatorin hütete die Harmonie.
Keine echte Kontroverse — schließlich waren ja alle für Klimaschutz. Aber auch kein wirklicher Austausch über die fundamentalen Fragen: Befinden wir uns in einem existenziellen Notstand oder auf einem guten Weg? Brauchen wir radikale Systemveränderungen oder reichen lokale Erfolgsgeschichten? Haben wir noch Zeit für schrittweise Verbesserungen oder läuft uns die Zeit davon?
Man redete höflich aneinander vorbei.
Der zentrale Fehler: Es geht nicht um Kommunikationsstile
Diese Szene ist symptomatisch für den gesamten Klimadiskurs. Wir tun so, als wäre es eine Frage des persönlichen Stils oder der Kommunikationsstrategie, ob wir in einer existenziellen Krise stecken oder nicht.
Aber hier liegt das fundamentale Problem:
Es geht nicht um Meinungen, Stile und Vorlieben. Es geht um Physik.
Entweder überschreiten wir kritische Kipppunkte des Erdsystems oder nicht. Entweder steigt der Meeresspiegel um mehrere Meter an oder nicht. Entweder befinden wir uns in einem “Code Red für die Menschheit” (UN 2021) oder auf einem guten Weg mit lokalen Lösungen.
Diese Fragen haben objektive Antworten — auch wenn sie unbequem sind.
Was ist deine Realität?
Bevor du weiterliest, drei Fragen an dich persönlich:
1. Welche Zeitvorstellung hast du? Sprechen wir von Problemen für unsere Enkel oder schon für uns selbst? Haben wir noch Jahrzehnte Zeit für eine geordnete Transformation oder nur noch wenige Jahre, bevor kritische Kipppunkte überschritten werden?
2. Wie konkret stellst du dir die Auswirkungen vor? Etwas wärmere Sommer und höhere Deichkosten? Oder Zusammenbrüche von Ernährungssystemen, Millionen von Klimaflüchtlingen auch in Europa, Überforderung unserer demokratischen Institutionen?
3. Auf was wärst du bereit zu verzichten, wenn das Leben deiner Kinder davon abhinge? Auf Kreuzfahrten? Das Auto? Fernreisen? Fleisch? Das größere Haus? Deinen aktuellen Lebensstil?
Deine spontanen Antworten verraten dir: In welcher emotionalen Welt lebst du? Und damit: Worüber redest DU eigentlich, wenn du über Klimawandel sprichst?
Das Problem der fragmentierten Realitäten
Was auf dem Podium passierte, durchzieht die gesamte Klimadebatte. Wir diskutieren nicht nur über verschiedene Lösungen — wir diskutieren über völlig verschiedene Probleme und Denkansätze.
Ein Wirtschaftsverband-Vertreter sorgt sich um Gewinneinbußen und kurzfristige Wettbewerbsnachteile — ein Aktivist hat buchstäblich Todesangst vor dem Kollaps der Zivilisation. Eine Kommunalpolitikerin freut sich über erfolgreiche lokale Projekte — eine Wissenschaftlerin warnt vor unumkehrbaren planetaren Prozessen.
Sie leben in verschiedenen Realitäten — und alle haben aus ihrer jeweiligen Perspektive recht. Genau hier wird deutlich: Solange wir keine gemeinsame Faktenbasis haben, bleiben alle Diskussionen fruchtlos.
Von der Endlosdiskussion zur evidenzbasierten Politik
Diese Beobachtung war der Ausgangspunkt für mein neues Thesenpapier. Die Kernfrage: Wie kommen wir raus aus diesen fragmentierten Realitäten und endlosen Grundsatzdebatten? Wie schaffen wir es endlich von “Meinungen” und “Kommunikationsstilen” zu evidenzbasierten Entscheidungen?
Die Lösung liegt nicht in noch besseren Diskussionsrunden oder mehr Verständnis für verschiedene “Stile”. Sie liegt in einem systematischen Ansatz, den wir bei jeder anderen Krise längst praktizieren: Erst die Expert:innen-Diagnose, dann die Therapie.
Denk an Pandemien: Zuerst analysieren Virologen und Epidemiologen die Lage, dann werden Maßnahmen entwickelt. Bei Finanzkrisen konsultieren wir Ökonomen. Bei Naturkatastrophen koordinieren Katastrophenschutz und Meteorologen. Niemand käme auf die Idee, eine Pandemie zu bekämpfen, ohne vorher das Virus zu verstehen.
Nur bei der Klimakrise reden wir seit Jahrzehnten über Lösungen, ohne uns zuvor auf eine verbindliche, gemeinsame Einschätzung der Situation, deren Umfang, zeitliche Einordnung und Tragweite geeinigt zu haben.
Ein systematischer 4‑Phasen-Ansatz
Das vollständige Papier entwickelt daraus einen konkreten Vorschlag: Einen systematischen 4‑Phasen-Ansatz, der den bereits 2021 von den UN ausgerufenen “Code Red für die Menschheit” endlich ernst nimmt.
Phase 1 würde den wissenschaftlichen Notstand institutionalisieren und eine Gap-Analyse zwischen aktueller Politik und IPCC-Anforderungen durchführen. Phase 2 konzentriert sich auf spezifische Lösungen für die identifizierten Lücken. Phase 3 stellt durch kontinuierliches Monitoring sicher, dass die Maßnahmen wirken. Und Phase 4 organisiert die Umsetzung in einem echten Krisenmanagement-Modus.
Paradox: Klarheit gehen die Menschen mit
Ein oft übersehener Effekt dieses systematischen Ansatzes: Mit der klaren Anerkennung der Notsituation und der transparenten Aufklärung über die konkreten Konsequenzen wird es paradoxerweise viel leichter, die Menschen bei der Transformation mitzunehmen.
Warum sollte ich mich auf anstrengende Veränderungen einlassen, Verzicht üben oder meine Gewohnheiten ändern, wenn mir nicht wirklich klar ist, was passiert, wenn ich es nicht tue? Ist die klare, wissenschaftsbasierte Benennung der Bedrohung und ihrer Konsequenzen nicht genau der erste Schritt, um Menschen zu motivieren?
Im ausführlichen Papier findest du:
- Eine detaillierte Analyse der unterschiedlichen “Realitäten” im Klimadiskurs
- Den konkreten 4‑Phasen-Plan für wissenschaftsbasierte Klimapolitik
- Antworten auf kritische Einwände (“Wer entscheidet über die Wissenschaft?”, “Was ist mit der Demokratie?”)
- Und am Ende eine sehr persönliche Reflektion: Auf was bin ich bereit zu verzichten, um das Leben meiner Kinder zu retten?
Es ist Zeit für wissenschaftsbasierte Ehrlichkeit
Die Klimakrise wartet nicht auf den perfekten Konsens. Aber sie wartet auch nicht darauf, dass wir uns in endlosen Debatten über Kommunikationsstile und persönliche Befindlichkeiten verlieren.
Es ist Zeit, dass wir alle über dasselbe Problem reden — basierend auf wissenschaftlicher Evidenz statt fragmentierten Realitätswahrnehmungen.
Kontakt: Frank Schier
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Dieser Blogbeitrag spiegeln ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wider und repräsentieren nicht die offizielle Position des Zukunftsrates Hamburg. Der Zukunftsrat Hamburg setzt sich jedoch aktiv für den Austausch über verschiedene Perspektiven und Themen im Bereich Nachhaltigkeit ein.
Über den Autor
Frank Schier, 58, geboren in Mainz, ist Vater zweier erwachsener Kinder. Nach einer Ausbildung zum Heizungsbauer fand er seinen Weg in die Welt des Werbefilms. Vor 25 Jahren gründete eine eigene Multimedia-Agentur, die sich gemeinsam mit seinem späteren Geschäftspartner zu einer Full-Service-Agentur SCHIERRIEGER entwickelte. Seit über 13 Jahren liegt deren Spezialisierung auf Nachhaltigkeitskommunikation. Seit 2017 ist SCHIERRIEGER Mitglied des Zukunftsrats Hamburg, und seit 2018 bekleidet Frank Schier die Position des Sprechers des Zukunftsrats. In dieser Rolle widmet er sich Themen wie Klimakommunikation, Kreislaufwirtschaft, Energie, Stadtentwicklung und Transformation. Darüber hinaus vertritt er den Zukunftsrat im Nachhaltigkeitsforum Hamburg seit 2017.
