Am 27. Juni veranstalteten wir gemeinsam mit Mehr Demokratie LV Hamburg unter dem Titel „Krisen – Krisen – Krisen. Sind Bürgerinnen und Bürger Objekte oder Subjekte der Lösungen?“ einen interaktiven Workshop zu dialogbasierten Beteiligungsformen, wie sie in Hamburg heute und in Zukunft Einsatz finden.









Wir haben die Frage aufgeworfen, ob wir Bürger nur als Gegenstand oder auch Mitgestalter der Lösungen angesehen werden. Zu Beginn haben wir uns einen Impuls von Jörg Sommer eingeholt, dem Leiter des Berlin Institut für Partizipation (bipar). Wir luden drei wichtige Behördenvertreter und unsere Sprecherin Claudine Nierth ein und konzentrierten uns dabei exemplarisch auf vier verschiedene dialogorientierte Beteiligungsformate. Alle vier haben in einem kurzen Pitch ihr Beteiligungsverfahren skizziert. Nach den Pitches wurden die Verfahren in kleinen Teams vertieft und diskutiert, wofür diese jeweils am besten geeignet wären.
Alexander von Vogel, Staatsrat in der Behörde Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke (BWFGB), in dessen Ressort das Bürger:innen-Beteiligungsbericht 2020 [Link zu https://www.hamburg.de/bwfgb/15261330/bericht—buergerinnenbeteiligung/] erstellt wurde, wies darauf hin, dass an manchen Stellen der Verwaltung noch immer das Missverständnis bestehe, dass Bürgerbeteiligung eine Art von „Widerstandsmanagement“ sei. Sein inzwischen gestärktes Team und hat ein Schulungskonzept erarbeitet, das nach der Sommerpause startet und Mitarbeitern in Fachbehörden und Bezirksämtern Schulungen und Coaching für Beteiligungsverfahren anbietet. Aspekte wie Recht Haltung, Ziel, Strategie und anzuwendende Methode, aber auch Beteiligung von Kindern und Jugendlichen werden adressiert.
Das aufsuchende Verfahren der „Tür- und Angelgespräche“, das von Vogel vorstellte, beruht auf systematisch vielfältig ausgewählten Adressen im Stadtteil, deren Bewohner man in individuellen Gesprächen nach ihren Bedürfnissen befragt und daraus Maßnahmen ableitet, die konkrete Besserung der Lebensverhältnisse bringt. So etwa die Beschaffung eines Bürgerbusses für ältere Bewohner in Niendorf.
Von Vogel begrüßt auch digitale Beteiligungsverfahren, erinnert aber daran, dass bei Fragestellungen, bei denen ein Ringen oder Streiten um den Ausgleich von Interessen erforderlich ist, das Ziel digital kaum erreichbar sei. Darüber hinaus bestehe nach wie vor die Herausforderung, dass bei bestimmten Beteiligungsformaten immer dieselben Menschen dabei sind, während man ganze Bevölkerungsgruppen nicht erreicht. Daher sieht er in dem Zufallsprinzip ein wichtiges Instrument, um mehr Menschen zu erreichen, und findet, dass wir auch Bürgerräte brauchen.
Claudine Nierth beschrieb die Entwicklung, wie es zu den ersten bundesweiten Bürgerräten nach dem irischen Vorbild kam, wie die Bundesregierung und der Bundestag schließlich von der Idee überzeugt werden konnten und dass im kommenden September der erste („Ernährung im Wandel“) von drei in dieser Legislaturperiode vom Bundestag einzusetzenden Bürgerräte startet. Mehr Demokratie ist eine der vier Institute, die die Durchführung der Bürgerräte organisieren werden. Nierth beschrieb dann die wichtigsten Eigenschaften eines Bürgerrats und das Losverfahren zur Auswahl der 160 Menschen, die daran teilnehmen. Für Nierth ist das Besondere an Bürgerräten gerade das Los, weil es bereits das Bewusstsein der Teilnehmenden ändere: Das Einzige, das die Teilnehmenden verbindet, sei das Ausgelost-worden-sein. So schlüpfen sie in die Rolle des Bürgers, der für das Ganze bürgt. Auch Parlamente können einiges daraus lernen, dass die Ausgelosten nicht in diese Versammlung gehen, um zu dominieren, sondern um zuzuhören und zu beraten. Das Zuhören auf andere bewirke die Offenheit, auch die eigene Meinung zu überprüfen und ggf. sogar zu verändern. Es entstehe so etwas wie ein Gemeinsinn — das Beste für uns alle. Bürgerräte machen ihrer Meinung nach dann Sinn, wenn sie eng mit der Politik verknüpft sind. Wenn Abgeordneten eine brennende Frage vorliegt, kann die Empfehlung aus dem Querschnitt der Bevölkerung eine wertvolle Ergänzung zu den Meinungen von Experten, Wahlkreisen und der Fraktion sein. Ein im Idealfall im Konsens verabschiedetes Bürgergutachten liefere den Abgeordneten eine zusätzliche Beurteilungsgrundlage. Damit sei auch die Grenze eines Bürgerrats abgesteckt. Seine Rolle ist beratend. Das wesentliche und neue Element ist der Dialog, der die Bürger untereinander und den Bürgerrat mit der Politik enger zusammenbringen und helfen könne, die bestehende Kluft zu überwinden. Noch seien wir in der Erprobungsphase, sagt Nierth, sie hoffe aber, dass die nächste Legislaturperiode Bürgerräte gesetzlich etablieren wird.
Norbert Kuhn leitet im Amt für Digitalisierung und IT der Senatskanzlei die Abteilung „Urban Data Governance und Projektunterstützung“ und ist verantwortlich für Open Data und den Aufbau einer Data Governance als Regelungsrahmen für den Umgang mit den Daten der Stadt. Eines der Vorhaben, das Bestandteil des Hamburger Aktionsplans im Rahmen von Open Government Partnership (OGP) Local hebt sich durch eine neue, ambitionierte Beteiligungsform hervor: Ko-Kreation und Kollaboration. Seit 2022 ist Hamburg Mitglied in OGP Local. Der Aktionsplan verfolgt das Ziel, datenbasiert den Bürgerinnen und Bürgern möglichst gute Hilfe bereitzustellen, wie sie in Hamburg von A nach B kommen. Dabei stehen benachteiligte Gruppen besonders im Fokus. Das Herzstück des Aktionsplans bilden aber die Selbstverpflichtungen Transparenz, öffentliche Rechenschaftslegung, Bürgerbeteiligung und ‑einbindung sowie Technologie und Innovation.
Bereits der Aktionsplan wurde mit früher Beteiligung der Zivilgesellschaft erstellt (Ko-Kreation) und eine durchgehende Zusammenarbeit mit ihr (Kollaboration) kennzeichnet die weitere Entwicklung des Vorhabens. Diese Zusammenarbeit stellte Kuhn als wichtig heraus, denn bei vielen Digitalisierungsvorhaben stehe die Technologie im Vordergrund und bei den Bürgern bleibe häufig die Frage offen, was sie denn damit zu tun haben. Der Hauptpartner ist hier die Körber Stiftung, zusätzlich wurde ein Multistakeholder Forum (MSF) mit weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen und der HafenCity Universität gebildet. (Ich bin Mitglied in dem MSF.)
Claudius Lieven, Leiter der StadtWerkstatt in der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen (BSW) berichtete über das Digitale Partizipationssystem DIPAS, das bei geodatenbasierten Planungsvorhaben zum Einsatz kommt, sowohl bei kleinen wie z.B. Kinderspielplätze als auch bei großen Verkehrsprojekten wie z.B. U5 oder Velorouten. Einige kennen bereits die interaktiven Planungstische mit digitalen Karten, Luftbildern und 3D-Modellen. DIPAS ermöglicht aber ebenso eine online Beteiligung an den Planungsvorhaben. Die jüngste Erneuerung ist der DIPAS-Navigator, die eine Übersicht über alle mit DIPAS durchgeführten Beteiligungsverfahren und stellt tagesaktuell dar, wo, wann und zu welchen Themen Beteiligungen stattfinden. Über 100 Verfahren seit 2016 sind in DIPAS dokumentiert einschließlich ihrer Historie. Sogar ein Storytelling-Funktionalität ist eingebaut. Mehrere andere Städte sind inzwischen dabei, DIPAS einzusetzen.
Die Pitches und die Dialoge






Nach den Vorträgen haben wir in kleinen Teams die Verfahren in mehr Tiefe diskutiert und z.B. versucht zu skizzieren, welche der Methoden für welche Art von Fragestellungen besser geeignet sind.
Unser zusammenfassender Fazit aus dieser Veranstaltung und aus anderen Dialogen mit mehreren Verwaltungsfunktionen: Die Lokomotiven der Bürgerbeteiligung, die wir hier zu Gast hatten, haben die Notwendigkeit und den Wert von Beteiligung und Dialog mit den Bürgern längst erkannt. Sie sehen darin nicht nur ein Instrument zum Widerstandsmanagement, sondern verfügen über einen soliden Erfahrungsschatz um die verbesserten Ergebnisse für Vorhaben und um die Bedeutung für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, auch den Zugang und Attraktion für viele Bevölkerungsgruppen erheblich gesteigert, kann die Erreichbarkeit zu allen Gruppen aber auch nicht lösen. Dass die Durchführung von Beteiligungsprozessen professioneller Vorbereitung und Durchführung bedarf und dass jeder Prozess auf die bevorstehende Aufgabe zugeschnitten sein muss, ist wohl verstanden und die Lokomotive belegen ihren Mut zu vielen Neuerungen.
Aber diese Erkenntnisse sind noch nicht in jede Ecke der Verwaltung vorgedrungen. Noch sind Silos vorhanden, in denen einzelne Führungskräfte mehr an sich selbst als an die Kraft des Zusammen glauben. Noch sind die finanziellen und personellen Spielräume ein Engpass, um diese Erkenntnisse und Fähigkeiten breit Früchte tragen zu lassen. Noch sind diese Fortschritte und die vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten den Bürgerinnen und Bürgern in ihrer Breite nur unzulänglich sichtbar.
Die bevorstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen gebieten, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen Politik und Verwaltung einerseits und den Bürgerinnen und Bürgern andererseits einer vorausschauenden Stärkung bedarf. Der neue Verfassungsauftrag zur Bürgernähe liefert das Handlungsgebot dazu. Jetzt muss dieses Gebot so institutionalisiert werden, dass es auch sein ganzes Potential entfalten kann. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten für diesen erhellenden und vertiefenden Dialog als einen Beitrag dazu!
Helena Peltonen-Gassmann
Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.
Abraham Lincoln, ehem. amerikanischer Präsident