Wer wäre besser geeignet, kompetente Gedanken zur Digitalisierung, Daten und KI aus verschiedenen Blickwinkeln vorzulegen als der Jurist für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsphilosophie und ehemaliger Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit. Prof. Dr. Johannes Caspar hat sowohl auf die Vorteile als auch auf die Abgründe der Digitalisierung, der Datensammelwut und der KI aus nächster Nähe geschaut, hat die Opfer verteidigt und die Täter bekämpft – ohne Scheu vor Big Tech. Dieser breite Erfahrungsschatz ermöglicht seine verschiedenen Blickwinkel, kritisch auf die digitale Entwicklung unserer Gesellschaften zu schauen.
Sein Buch hat Caspar in zwei Teile unterteilt: Im Teil I. ‚Herrschaft der Daten‘ erläutert er die aus der Strafverfolgung stammenden Profilbildung, ihre Bedeutung für die Geschäftsmodelle des Onlinemarketings und, wie wir zum Gegenstand der perfiden Marketingstrategien werden. Das Vergessen sei eine wichtige Grundlage eines modernen Rechtssystems von Schuld und Sühne, erinnert der Autor. Aber das Internet vergesse nichts, sei unerbittlich und kenne keine Gnade. Trotz Datenschutzgrundverordnung sei es schwer, auch personenbezogene Daten zu verteidigen. Anders als bei verkörperten Gegenständen, entstehen bei vielen Vorgängen und Transaktionen Zuordnungen von Daten zu Personen, deren Eigentum rechtlich schwer zu bestimmen sei.
Da das digitale Abschalten für die meisten von uns keine Lösung ist, müsse es andere Lösungsansätze geben. In seinem Buch geht Caspar aber nicht auf die vielen technischen Schutzmechanismen, die jeder Benutzer anwenden kann und für die es öffentliche Hilfeangebote gibt. Es geht ihm um das Grundsätzliche. Es dürfe nicht sein, dass wir uns wie Serienkiller verhalten müssen, um durch das Raster der Datenjäger zu schlüpfen. Vielmehr entwickelt er Vorschläge dafür, wie das System der Überwachung und Kontrolle verändert werden muss. Nur Lösungsansätze, die auf Freiheit und Selbstbestimmung sowie auf aufgeklärter Rechtsstaatlichkeit beruhen, ermöglichen einen menschengerechten und transparenten Zugang zur digitalen Welt, postuliert Caspar. Das Digitale darf sich nicht in einem Kampfplatz reduzieren lassen, auf dem wir uns gegen die Profilindustrie zur Wehr setzen müssen, um nicht deren Beute zu werden.
Im Teil II. ‚Herrschaft des Rechts‘ wechselt Caspar den Blickwinkel hin zu unseren Gesellschafts- und politischen Systemen, die nicht weniger von der Digitalisierung, von Macht der Daten erschüttert werden. Die gesellschaftlichen Defizite wie z.B. die wachsende soziale Ungleichheit produzieren soziale Absteiger. Kombiniert mit einer Krise der politischen Repräsentation und geopolitischen Verwerfungen kommt digitalen Instrumenten, die über große relevante Datenmengen verfügen, eine Bedeutung zu, wie sie sie nie zuvor hatten. Während Daten und Digitalisierung ganz offensichtlich große Potentiale zur effizienten Lösung vieler Probleme entfalten können, zeigt sich immer wieder, wie die Modelle die bisherigen Fehler „gelernt“ haben und diese reproduzieren, verbreiten und vergrößern. Im geopolitischen Maßstab spielt sich Ähnliches ab. Neue Allianzen von Autokratien spüren Aufwind, weil sie häufig erstmalig spüren, dass sie mit Digitalisierung und mit Daten mit den bisherigen vermeintlichen Systemgewinnern auf Augenhöhe angekommen sind.
Man könnte in eine dystopische Depression verfallen, wenn der Autor nicht klare Lösungsansätze bieten würde. Und zwar Ansätze, die weder einen neuen Menschen, noch eine neue Wirtschaftsordnung zur Voraussetzung haben, sondern eine digitale Wende ermöglichen, die „sich aus den Grundprinzipien der demokratischen Traditionen, den Grundsätzen des neuzeitlichen Verfassungsstaats und einer kritischen Bestandsaufnahme der Gegenwart [ergibt]“.
Die Lektüre bringt wohltuende Vertiefung des Verständnisses der Prozesse, von denen wir teils erkennbar, teils unbemerkt Bestandteil sind. Sie verdeutlicht die Risiken, denen wir uns aussetzen, wenn wir nicht wachsam und aktiv werden, um die Fehlentwicklungen zu bremsen und umzulenken. Sie macht vor allem deutlich, dass wir über die Freiheit und über die rechtstaatlichen Instrumente verfügen, die gegen unkontrolliertes Unheil wirksam eingesetzt werden können. Sie schärft den eigenen Blick und ermöglicht kritische Betrachtung von Plänen und Entscheidungsvorlagen im kleinen und im großen Maßstab. Jedes Kapitel wäre einen eigenständigen Workshop wert!
Helena Peltonen-Gassmann
Mai 2024
Johannes Caspar: „Wir Datensklaven. Wege aus der digitalen Ausbeutung.“, Econ Verlag, 2023; ISBN 978−3−430−21081−2, 352 S., 24,99 Euro.